„1945: Die Vertreibung aus unserer Heimat Niederschlesien mit meinen betagten Eltern und meiner Tante Ida“ – Miterlebt und niedergeschrieben von einer Ramsenthalerin
Wandelheim, Kreis Guhrau, Niederschlesien
Niederschlesien ist ein Bauernland; Industrie gab es wenig. Unser Dorf Wandelheim hatte etwa 800 Einwohner; viele waren Bauern, auf großen und kleineren Höfen.
Unser Bauernhof war im Besitz seit 1778. Zu der Landwirtschaft gehörten ca. 20 Morgen Land und eine Windmühle. Die Zeit der Windmühlen ging dem Ende zu; sie wurden durch Dampfmühlen ersetzt. Nun kaufte mein Vater Felder hinzu, so dass es dann zwölf Hektar waren und eine Familie sich ernähren konnte.
Vater wollte eigentlich Kaufmann werden. Auf Bitten der
Eltern übernahm er doch die Landwirtschaft, obwohl ohne große Freude; aber er
tat seine Pflicht.
Mit 16 Jahren war er sehr herzkrank, aber er hat solide gelebt und ist schließlich
fast 94 Jahre alt geworden.
Meine Mutter ist in einem größeren Bauerhof geboren, als Jüngste von vier
Geschwistern. Als sie konfirmiert wurde, übernahm der älteste Bruder mit 34
Jahren die Landwirtschaft. (In Schlesien bestand das Ältestenrecht.) Dann
heiratete er.
Da Mutter nicht nur beim Bruder arbeiten wollte, ging sie in einen
Pfarrhaushalt. Dort war sie zwölf Jahre. Das hat ihr Leben geprägt.
Dann aber waren ihre Eltern alt und pflegebedürftig, so kam sie zurück auf den
Bauernhof, pflegte ihre Eltern, bis diese zur letzten Ruhe gebettet wurden.
Die Verhältnisse brachten es mit sich, daß meine Eltern erst spät heirateten.
Wenn nun beide auch nicht mit großer Freude Bauern waren, so waren sie doch
strebsam, kauften Maschinen und hatten alles in Ordnung.
Ich mußte schon sehr früh mit anpacken. Mit zehn Jahren bekam ich schon die Mistgabel in die Hand und ich war mit allem, was zur Landwirtschaft gehört, sehr verwachsen. Mit einem Satz: Ich war Bauer mit Leib und Seele! Es war auch die Zeit, daß Bauer ein erlernter Beruf sein sollte. So machte ich die Hausarbeitsprüfung und nach zweijähriger Lehrzeit die Hauswirtschaftsprüfung.
Sicher bekamen wir auch als Bauern schon den Krieg zu spüren: Bestimmungen über Ablieferungen waren an der Tagesordnung, jedoch vom eigentlichen Ausmaß des Krieges bekamen wir zunächst noch wenig mit. Fernsehen gab es nicht und einen Volksempfänger (Radio) hatten nur wenige; aber auch da wurde nur über die eigenen Siege gesprochen. Von vielem Geschehen sickerte auf dem Lande nur wenig durch.
Der Ernst des Krieges wurde uns erstmals bewusst, als im Herbst 1943 Einquartierungen im Dorf kamen; man nannte sie Baukolonnen. Ältere Männer und ganz junge (noch nicht kriegsverwendungsfähige) mussten tiefe Gräben durch unsere Felder schachten. Es hieß; die Deutschen sind auf dem Rückmarsch, die Gräben wären für alle Fälle, falls der Russe käme.
Als wir im September 1944 noch das Korn ins Feld säten
und ich, wie immer, den Rand sauber machte, ging ein Offizier vorbei, der sagte:
„Das erntet ihr nicht mehr!“.
Weihnachten 1944 feierten wir noch still und bescheiden, aber doch schon mit
Bangen vor der Zukunft. Was würde uns das Jahr 1945 bringen?
Anfang Januar haben wir noch wie immer mit Getreidedreschen verbracht. Aber es sickerte doch Beunruhigendes durch: Die Russen wären schon nicht weit von der (deutsch-polnischen) Grenze und es müssten schon Dörfer geräumt werden.
Am 18. Januar hörten wir ab und zu von weitem
Kanonendonner; der Ernst des Krieges kam immer näher. Am 20. Januar wurden
Wagen gepackt und Frauen mit Kindern mussten das Dorf in Richtung Westen
verlassen.
Am gleichen Tag kalbte bei uns eine Kuh sehr schwer. Noch in der darauffolgenden
Nacht musste sie notgeschlachtet werden. Da im Dorf kein Metzger mehr war, kamen
zwei Metzger von der Baukolonne, die Kuh wurde abgeledert (enthäutet) und am
Morgen des 21. Januar in der Scheune aufgehängt. Einer dieser Männer sagte,
dass auch wir bald unser Dorf verlassen müssten.
So haben wir überhaupt nicht geschlafen, sondern Vater und ich richteten am
Morgen den kleinen Kastenwagen, da wir ein schwaches Pferd hatten und unsere
Ochsen konnten wir wegen der Glätte auf den Straßen nicht nehmen.
Mutter und ich packten ein paar Sachen in einen Reisekorb, Vater suchte noch
etliche Papiere und Urkunden zusammen; dies geschah aber alles noch in der
Hoffnung, dass wir doch bleiben können.
Am 22. Januar wurden wir geweckt – das Kommando kam:
Das Vieh noch mal gut füttern und um 8 Uhr auf dem Dorfplatz zur Abfahrt
bereitstehen! (Später wurde das Vieh vom Volkssturm versorgt.)
Wir fütterten unser Vieh noch mal gut und reichlich und packten dann in Eile
ein paar Habseligkeiten auf den Wagen; (zum Glück noch unsere Betten; diese
haben wir noch notwendig gebraucht). Über das Ganze warfen wir dann unsere große
Ernteplane.
Vaters Schwester Ida, 71 Jahre alt und krank, wurde auch mit aufgeladen. Vater wäre
ja am liebsten dageblieben, er ist nur mir zuliebe, weil ich jung war,
weggefahren!
Als wir durch das hintere Hoftor fuhren, blieb Vater stehen und sagte: „Schaut alle noch mal zurück, das sehen wir niemals wieder!“
Pünktlich um 8 Uhr fuhr dann der Treck mit 60 Wagen zum Dorf hinaus. Es war sehr kalt, mindestens 15 Grad und es gab viel Schnee. In Herrnstadt kam es schon zum ersten Stau, da von jeder Seite Trecks kamen. Doch langsam ging es weiter. Am Abend gegen 8 Uhr fuhren wir bei Steinau über die Oderbrücke, dann wurden wir in einem Dorf untergebracht. In der Schule war Stroh geworfen für ein Massenquartier. An Schlafen war nicht zu denken; die Pferde mussten ja auch gefüttert werden. Die Oderbrücke wurde noch in der gleichen nacht, gegen Mitternacht, gesprengt.
Der Kanonendonner kam immer näher! Als wir am Morgen zum Weiterfahren einspannten, standen einige Männer zusammen, darunter auch der Ortsbauernführer und sagten: „In 14 Tagen sind wir wieder daheim!“. Mein Vater traute sich und sagte: „Und ich sage Euch, Ihr fahrt nie mehr heim!“.
Dann ging es weiter, von einem Dorf zum anderen. Unsere
alte Tante ist uns die erste Nacht schon halb erfroren. Schneestürme kamen und
unser Einspännerwagen war schwer zu fahren; dann wurde durchgegeben, wir müssten
auch die Nacht durchfahren.
Ich wusste, dass wir dies in der Nacht und dem vielen Schnee nicht schaffen
konnten. Der Rappen konnte bald nicht mehr.
Ich habe dann unterwegs bei einem Bauern um eine Kette gebeten, denn vor uns ist
ein großer Bauernwagen gefahren, mit schweren Pferden. Da habe ich in meiner
Verzweiflung angehängt.
Es war eine traurige Nacht! – Dergestalt fuhren wir bis
Sandhofen-Polkwitz (und ich habe mit Vater geschwitzt und gekämpft, so dass wir
doch mitgekommen sind).
Am Morgen wurde angehalten, um die Pferde zu füttern. Auch wir bekamen warmen
Kaffee und etwas zu Essen. Etliche Einspänner in dieser Nacht sind
liegengeblieben und dann in die Hände der Russen gefallen. Immer wieder habe
ich versucht, nachts anzuhängen, solange der viele Schnee da war.
In Prinkenau haben wir dann unsere Tante zurückgelassen, in einem Haus, wo kranke Flüchtlinge aufgenommen wurden. Es tat uns sehr leid, aber sie konnte nicht mehr laufen und auf dem kalten Wagen war es doch auch sehr grausam. Besonders Vater tat es weh, denn er hatte einst seiner Mutter versprochen, dass er für seine Schwester sorge.
Für uns ging der Kampf ums Überleben weiter. Durch Städte
war es oft sehr schwer, wir mussten aufpassen; weil Trecks von jeder Richtung
kamen. Wenn man da die Wagenreihe seines Dorfs verloren hat, war es vorbei.
Auch Kinder haben sehr oft ihre Eltern verloren, sie wurden dann von Anderen
mitgenommen. Im Schnee am Straßenrand lagen tote Pferde, Ochsen, aber auch
Menschen, sogar Kinder!
Immer noch hatten wir mit dem Schnee zu kämpfen, bis Sagan. Dann war es sehr
kalt, jedoch die Straßen waren frei. Es war Teerstraße, nun konnte es unser
Pferd wieder allein schaffen. In den Dörfern, durch die wir in Schlesien kamen,
hatten die Bauern auch schon ihre Wagen (zum Flüchten) fertig.
Manchmal machten wir in einem der Dörfer kurz Halt, um
Pferde zu füttern und auch wir wurden notdürftig versorgt. Als wir
weiterfuhren, haben auch diese Menschen ihr Dorf verlassen. So ging es immer
weiter, von einem Dorf zum anderen, bis wir Schlesien verlassen hatten und nach
Sachsen kamen. Oft waren wir auf Stroh im Massenquartier, da haben wir trotz
Mantel und Bett gefroren.
Ab und zu habe ich versucht, Mutter nachtsüber in einer Wohnung unterzubringen.
Einmal habe ich mit Vater in einem Pferdestall auf einem Strohbündel gesessen. Da waren zehn Pferde untergebracht, die haben die ganze Nacht geschlagen, hinausgehen konnten wir nicht, es war bitterkalt. Da waren wir froh, dass es Morgen wurde. – „Ja, die Zeit rinnt auch durch den schwersten Tag!“ – Inzwischen ist die Straße und unser Wager zur Heimat geworden. – Da weiß man erst, was das Wort „Heimat“ bedeutet!
Am 11. Februar kamen wir in ein Quartier, dort sollten wir etwas länger bleiben: in Kleinthiemig bei Großenhain! Da waren wir bei guten Leuten, konnten uns endlich einmal richtig waschen und jeder konnte in einem richtigen Bett schlafen.
Das Pferd musste beschlagen werden, auf der Straße war es schon durchgelaufen; wir bekamen auch Hufeisen. In dieser Zeit haben wir auch die Bombardierung Dresdens gesehen, der Himmel war blutrot.
Der Krieg wird immer grausamer, Tausende von Menschen, auch sehr viele Flüchtlinge, haben da ihr Leben lassen müssen.
Familie Hausmann hätte uns bei sich behalten, aber nach zwei Wochen mussten wir wieder weiter. Unser Wagendach hatten wir etwas besser in Ordnung gebracht. Am 25. Februar sind wir wieder weitergefahren. Mutter Hausmann hatte uns noch manches eingepackt. In Großenhain haben wir uns mit den anderen Wagen getroffen, dann ging die Fahrt ins Ungewisse weiter. Am 26. Februar fuhren wir bei Meißen über die Elbe.
Nun begannen neue Schwierigkeiten: Unsere Wagen hatten doch keine Bremsen, aber es wurde bergig. Bei Nossen – es war finstere Nacht – da kamen wir doch den Berg nicht hinauf. Da hat uns ein Polizist untergebracht und am anderen Morgen hat uns ein Bauer den Berg hinaufgefahren und wir erreichten unseren Treck wieder in Siebenlehn. Bauern halfen uns, notdürftig eine Bremse machen: Vor die Hinterräder kam eine Stange und ich musste da immer bremsen. Das war eine schwere Zeit für mich: bergauf schieben und bergab bremsen. Oft hatte ich große Angst, dass ich den Wagen nicht halten könnte. So kamen wir bis Euba vor Chemnitz.
Es wurde immer schwieriger, da dauernd Fliegeralarm war.
In Euba blieben wir drei Tage und waren oft im Luftschutzkeller.
Am 3. März fuhren wir doch weiter. Als wir kurz vor Chemnitz durch einen Wald
fuhren, haben Flieger den Treck, der eine Stunde vor uns das Dorf Euba verlassen
hatte, beschossen. Es war grausam, tote Pferde, Menschen, viele Verwundete. Die
paar Habseligkeiten der Flüchtlinge brannten oder hingen oben an den Bäumen.
In der Stadt Chemnitz sahen wir einen weiteren Treck, er
war wie weggemäht, lauter Trümmer, brennende Häuser, verschüttete Straßen
.Wir fuhren kreuz und quer, kamen aber nicht mehr durch. Deshalb fuhren wir
wieder zurück ins alte Quartier, aber dort war schon wieder ein neuer Treck. Es
war schwer, Menschen und Tiere unterzubringen.
Wieder wurde in der gleichen Nacht von den Amerikanern Chemnitz bombardiert. Am
Morgen kamen Scharen von Menschen, verrußt, verstört, nur Alte, Frauen und
Kinder.
Der Krieg wird immer schlimmer. Wieder hat Gott uns vor dem schlimmsten bewahrt.
Auch Dörfer wurden von den Fliegerangriffen nicht mehr verschont! Am Nachmittag sind wir dann bis Nierwiesa gefahren. Aber das wurde tagsüber immer gefährlicher. Nach einem erneuten Bombenangriff kamen auch durch diesen Ort viele Flüchtlinge aus der Stadt. Am 8. März haben wir dann Chemnitz umfahren, bis Hartmannsdorf.
Mit Bremsen und Schieben in den Bergen ging es weiter. Der Rappen und auch ich schafften es bald nicht mehr. Am 9. März waren wir in Ursprung, es war meiner Eltern Silberhochzeitstag. Eine gute Frau gab uns ein paar Brote und einen Kaffee, das war ein kleines Fest. Nur noch kurze Strecken konnten wir fahren, wegen der Flieger.
In Stollberg versuchte ich, ob wir bleiben könnten, aber
wir durften nicht und mussten weiter. Es war oft traurig anzusehen, wie sich das
Pferd quälte. Manchmal hat uns ein Bauer einen Berg hinaufgeholfen, indem er
vorspannte.
Dann waren wir in einer Domäne bei Weichlitz; wieder wurde ein Treck von den
Fliegern getroffen. Wir waren noch einmal bei den Überlebenden. Nun durften wir
noch früh und am Abend fahren.
Wenn die Flieger kamen, haben wir oft im Wald Schutz gesucht. Auch die Bauern auf den Feldern wurden beschlossen.
Weiter ging es, durch das Vogtland und nun auch durch
Bayern. Den Berg in der Stadt Münchberg werde ich nicht vergessen: Wenn da
nicht ein Mann aus der Stadt uns einen Hartholzprügel ins Rad gesteckt hätte,
ich glaube, da hätte der Rappen und ich den Wagen nicht mehr halten können.
Weiter ging es über Gefrees und Berneck.
Das Dorf Ramsenthal hat mir gefallen, wie es im Tal eingebettet war. Aber es ging weiter, Bindlach, Bayreuth, Kirchenthumbach. Oft habe ich auf dem Wagen geschlafen, meine Eltern im Massenquartier. Einmal bekamen wir gekochte Weizenkörner als Eintopf. Vater, der immer sehr bescheiden war, hat doch geweint.
Und weiter ging es über Vilseck, Kastl bis Velburg. Dort
wurden wir in umliegende Dörfer verteilt. Viele Pferde hatten die Druse, eine
sehr ansteckende Pferdekrankheit; auch unser Rappen wurde nicht verschont.
Sechs Wagen fuhren bis Ronsolden. Nach der Kirche suchten sich die Bauern, wer
passend für sie wäre, aus. Es war wie Viehhandel.
Wir mussten noch bis Freudenricht (bei Velburg) fahren. Unser Pferd schaffte es mit letzter Kraft auf dem steinigen Weg. Dort stellten wir ihn in einen Schuppen mit viel Stroh. Auch wir hätten sowieso nicht mehr weiterfahren können!
Es war Schluss!!! Wir waren alle am Ende!!!
In einem kleinen Kämmerlein schliefen wir, zwei Betten,
eine Liege, unser Reisekorb und ein Stuhl, da war das Zimmer voll. Und doch
waren wir froh, ein Dach über dem Kopf zu haben und etwas zu essen: Dafür
haben wir gearbeitet.
Vater hat nebenbei und mit viel Mühe und Hausmitteln seinen Rappen gepflegt,
Mutter half in der Küche und ich war Dienstmädchen für alles.
Oft waren wir doch sehr traurig und dachten mit Wehmut an unsere verlorene
Heimat. Das war die Zeit, als auch der Krieg dem Ende zu ging. Nun sind wir
Dienstboten.
Kartoffeln wurden gesteckt, viel umständlicher wie bei uns in Schlesien. Oft
donnerten Flugzeuge über uns hinweg. Bange war uns vor der Zukunft.
Ob unser Kelch bald zur Neige getrunken ist?
Kanonendonner kam immer näher, oft klirrten die
Fensterscheiben. Traurig dachte ich: Bald wird unser schönes Deutschland
vernichtet sein!
Aber alles Bangen und Sorgen hilft nichts: Was Gottes allmächtige Hand mit uns
vorhat, so wollen wir es ertragen!
Genau drei Monate nach der Flucht sind die Besatzer auch in Freudenricht. So kamen am 22. April 1945 die Amerikaner in das kleine Dörfchen Freudenricht, das weltvergessen zwischen Wäldern lag.
Ja, durch eines Menschen Wahnidee und seiner Helfer ist
unser schönes deutsches Vaterland der Vernichtung preisgegeben.
Ja, Hitler hat mit seinem Zwangsregiment das Deutsche Reich vollkommen ins
Verderben gestürzt. Nun hörten wir, dass Hitler gestorben ist. – Oh, wäre
es doch schon Jahre eher gewesen.
Aber noch immer nicht ist der Krieg zu Ende.
Oft dachten wir, nun sind wir nach wochenlangem Umherirren nun doch in Feindeshand. Deutsche Soldaten kommen oft in Zivil, sie müssen sich verstecken und sich fürchten, auf der Landstraße zu gehen, dies alles nach sechs Jahren Krieg und Entbehrung – oh, wie traurig!
Auf der Landstraße rollen Panzer und immer noch donnern
die Flieger über uns.
Bis dann endlich die Kunde von unserer bedingungslosen Kapitulation kam. Nun ist
Deutschland in den Händen der Sieger!
Mein Vater sagte: „Nun erwartet uns: Wenn der Sieger legt seine Hand auf das
besiegte Land.“ Aber endlich ist dieser bittere Krieg zu Ende.
Scharenweise kommen deutsche Soldaten durch das Dorf, täglich hatte der Bauer
Übernachtungen. Alle wollten der Heimat zu.
Oft dachten wir: Wer hätte dieses Ausmaß an Elend verhindern sollen? –
Anfangs hat das Hitlerregime ja auch viel Gutes gebracht. Als das Volk merkte,
wohin es ging, war ein Verändern vergebens.
Da dachten wir oft an unsere großen Kirchen, da sind doch kluge und studierte Menschen. Die hätten doch rechtzeitig vorausschauen und etwas verändern können? Auch Professoren und Lehrer haben versagt. Als das Ausmaß erkannt wurde und sich etliche dagegen stellten, Pfarrer, Offiziere usw., war es längst viel zu spät und so nahm das Unheil seinen Lauf.
„So ist unsere Generation als Sünder und Verbrecher gestempelt“. Aber bei aller Freiheit heute werden Fehler gemacht – und vielleicht auch einst einmal zu spät erkannt. „Denn unser Leben ist Stückwerk und nichts auf dieser Welt ist vollkommen“.
Unser Bauer Eichenseer in Freudenricht hatte zwei kräftige Polen zur Arbeit. Da nun der Krieg zu Ende war, gingen sie weg. Nun hätte ich sie mit meinen Eltern ersetzen sollen. Da war uns doch sehr bange vor der Zukunft. Meine Eltern waren doch alt, Vater war 74 und Mutter 63 Jahre. Uns fehlten für diese schwere Arbeit doch die Kräfte. Immermehr kam uns zum Bewusstsein, was aus uns geworden ist.
O geliebte Heimat, wie bist du so fern. Zu dieser Zeit waren alle Deutschen arm, aber wir gehörten doch zu den Ärmsten!
Dann kam eine Parole: Die Amerikaner teilen
Heimreisescheine für die Flüchtlinge aus. Die Freude war groß! Wir hörten,
zwei Drittel aus unserem Dorf sind bereits in Richtung Heimat. Manche hatten
schon eine Bleibe gefunden.
Nun packten auch wir. Unseren Reisekorb ließen wir bei Eichenseer zurück,
damit es unser Rappen heimwärts nicht so schwer hat, er war zum Glück doch
wieder gesund.
Am 2. Juni 1945 fuhren wir dann von Feudenricht weg, in
der Hoffnung, unsere Heimat zu erreichen. Aber Parolen überkreuzten sich täglich,
heute so, und am anderen Tag wurde gesagt, dass uns der Pole nicht mehr nach
Schlesien lässt. Unterwegs trafen wir manche Leidensgenossen, wir waren oft
unsagbar verzweifelt.
So fuhren wir über Edelsfeld, Kichenthumbach immer in Richtung Hof. In Lösten
(Nähe Münchberg) kampierten wir in einer Scheune.
Dort hörten wir, die Grenze bei Hof ist zu. Es dürfen keine Flüchtlinge mehr durch. Das gab uns wieder einen Schock. Nun sind wir schon zwei Wochen in der Scheune, leben von unseren kleinen Ersparnissen, wie lange noch?
Oft wünschten wir uns, wir wären unter der Erde und würden von all dem Jammer dieser Welt nichts mehr sehen. Meine alten Eltern taten mir leid. Es kamen schon wieder Trecks zurück. Mutter wäre am liebsten wieder zu Eichenseer zurückgegangen, aber Vater und ich wollten nicht; schwerer kann es hier in Oberfranken auch nicht werden.
Wieder kam eine Parole, vielleicht können wir in zwei
Wochen doch durch die Grenze.
Oft bete ich: Lieber Herrgott gib uns Kraft, unser Schicksal zu ertragen.
So hat sich Vater dann doch entschlossen, zurück nach Freudenricht zu fahren,
um unseren Reisekorb zu holen.
Eigentlich sind wir inzwischen wie Zigeuner geworden. Oft schliefen wir auf
Stroh, das Betteln um Nahrungsmitte, Pferdefutter usw. gehörte zum Alltag.
Oft waren wir auf der Fahrt durch und durch nass und
immer auf das Mitleid unserer Mitmenschen angewiesen. Viele gute Menschen haben
wir getroffen, aber ab und zu auch sehr harte Erfahrungen gemacht.
Nach zwei Tagen in Freudenricht fuhren wir wieder ins Ungewisse. Aber wir fuhren
mit der festen Hoffnung, unsere Heimat wiederzusehen.
Wir fuhren auf der Autobahn, was damals durch die Kriegswirren möglich war, an Bayreuth vorbei. An der Steigung oben an der Fuhrmannshöhe blieb unser Pferd öfters stehen. Ein Bauer, Herr Fuhrmann, ackerte neben der Autobahn. Da kam er einmal zu uns herüber. Er sagte, er hätte ein Zimmer für uns und täte uns aufnehmen. Wir sagten, wenn wir nicht über die Grenze können, kommen wir zurück.
In Lösten konnten wir nicht bleiben. Am 21. August (sieben Monate nach der Vertreibung) also fuhren wir dorthin zurück, glücklich, ein Zimmer zu haben und ein Bett. Auch von der Gemeinde (damals Gemeinde Benk) wurden wir aufgenommen, das war zu dieser Zeit ein großes Glück.
Als wir das letzte Stück auf der Autobahn fuhren, merkten wir erst, wie viele Menschen unterwegs waren. Eltern suchten Kinder, Kinder suchten Eltern, Männer ihre Frauen. Viele waren noch in Massenquartieren untergebracht, es dauerte oft sechs bis zehn Jahre, bis Familien wieder in geordneten Verhältnissen leben konnten.
Arbeit gab es, die verschiedenen Berufszweige konnten sich einfügen. Für die Bauern unter den Flüchtlingen jedoch war es am schwersten, oft wurden sie zu Sozialempfängern oder Knechten. Da hat sich mancher alte Bauer das Leben genommen. Ich kannte einen sehr ordentlichen Bauern, der hatte vier Söhne. Als keiner mehr nach dem Krieg heimkam, ging er ins Wasser.
Das Jahr 1945 war das Traurigste in unserem Leben, da sind oft viel Tränen geflossen.
Langsam haben wir uns auf der Fuhrmannshöhe zurechtgefunden, sehr lange hofften wir noch auf eine Heimkehr in unsere verlassenen schlesische Heimat.
Im April 1947 kam dann der Sohn Georg der Familie
Fuhrmann von der Gefangenschaft zurück, auch er hat viel Schweres und Trauriges
erlebt. So haben wir uns gefunden.
Das Schicksal geht oft sonderbare Wege.
Der Anfang war sehr schwer, aber nach und nach haben wir
uns einen Haushalt geschaffen. Mit Fleiß und Sparen haben wir uns dann ein Stück
Land gekauft; an der Straße, wo wir einst als Flüchtlinge mit dem Treck
vorbeigefahren sind.
1957 zogen wir mit unseren zwei Söhnen in unser neugebautes Haus.
Gott führt uns oft auf sonderbaren Wegen, aber er verlässt uns nicht.
So vergingen die Jahre. Hier könnte die Geschichte zu Ende sein, aber es gibt noch eine Nachgeschichte:
Als sich nach Jahren die Beziehungen zwischen Deutschen
und Polen besserten, wurde doch der Wunsch immer stärker, die Heimat meiner
Ahnen noch einmal wiederzusehen.
Im Mai 1986 unternahmen wir trotz mancher Hindernisse (Visum, lange Wartezeiten
an den Grenzen) diese Fahrt. Ab und zu hörten wir; der Pole verwehrt den
Deutschen die Besichtigung der Höfe und Häuser.
So standen wir mit Bangen vor dem Hoftor!
Wir wurden mit offenen Armen empfangen und herzlich willkommen geheißen.
Auch diese Familie Stanislaus Zeglen wurde aus Ostpolen
(in der Nähe von Tarnopol) von den Russen vertrieben. Ich konnte gar nicht
traurig sein, sondern habe mich gefreut, dass so liebe Menschen in meinem
Vaterhaus eine neue Heimat gefunden haben. So durfte ich mit meinem Mann noch
einmal die Wege meiner Kindheit und Jugendzeit durchstreifen. Und es wurde eine
gute gegenseitige Verbindung geknüpft.
1995 war ich noch einmal in dem alten schlesischen Heimatdorf. Auch da wurden
wir wieder sehr herzlich von der Familie Zeglen begrüßt.
Ich glaube, dass dies ein Schritt zu einer friedlichen Völkerverständigung und zu einem vereinten Europa ist.